Dein Kind schützen und selbst beruhigter sein
Weglauftendenz: Bei Kindern mit Down-Syndrom, Autismusspektrumsstörung oder Entwicklungsverzögerung ist das leider keine Seltenheit. Welche Ursachen dahinterstecken und vor allem was du tun kannst, um für die Sicherheit deines Kindes zu sorgen, erfährst du in diesem Beitrag.
Gerade hatte mein Sohn mit Down-Syndrom noch neben mir gestanden, und auf einmal war er weg.
Ich hatte nur eine Sekunde nicht hingesehen. Eine winzige Sekunde.
Besorgt blickte ich mich um. Wohin könnte er gelaufen sein?
Wie konnte es sein, dass ich ihn nirgendwo entdeckte?
Als mir klar wurde, dass er weder auf der Schaukel saß noch an einem anderen seiner Lieblingsorte war, wurde mir vor Angst ganz heiß.
Die Gedanken begannen, in meinem Kopf zu rasen.
Wer könnte ihn gesehen haben?
Wohin könnte er wollen?
Wo suche ich als nächstes?
Was ist, wenn …?
Wie auf Autopilot suchte ich die Umgebung ab.
Wieder und wieder. Vielleicht hatte ich ihn nur verpasst.
Er muss doch hier irgendwo sein!
Mein Herz begann zu rasen.
Und mir wurde klar: Nein, er ist hier nirgendwo. Er ist weg!
Weglauftendenz - Was steckt dahinter?
Viele Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, Autismusspektrumsstörung etc. haben schon erleben müssen, dass ihr Kind plötzlich wegläuft. Leider ein durchaus typisches Verhalten. Vielleicht kennst du es auch?
Eine Weglauftendenz kann den Alltag ganz schön anstrengend machen – wenn du dauernd damit rechnen musst, dass dein Kind aus heiterem Himmel einfach losläuft. Als mein Sohn mit Down-Syndrom noch klein war, passierte das eigentlich immer, sobald ich ihn aus dem Kinderwagen hob.
Eine Hand musste immer am Kind sein. Die andere hielt Einkaufstaschen und Kindergartenrucksack und schloss gleichzeitig die Tür auf.
Was aber sind die Gründe, warum Kinder weglaufen?
- Gerade bei kleineren Kindern können genereller Bewegungsdrang und Neugier eine Ursache sein. Die Freude daran, die Welt zu erkunden und Erfahrungen zu machen.
- Es kann auch situative Auslöser geben: die Taube, die in ein paar Metern Entfernung landet. Der Bagger am Ende der Straße. Leider auch: die Bushaltestelle oder U-Bahn-Station um die Ecke.
- Sehr häufig ist aber Überforderung der Grund fürs Weglaufen: Unsere Kinder fühlen sich von Situationen oder starken Außenreizen wie Lärm, vielen Menschen etc. überfordert und ergreifen die Flucht. Ein Verhalten, das nicht unbedingt willentlich gesteuert wird und hinter dem auch keine Aggression steckt – sondern häufig Selbstschutz.
- Hinter dem Weglaufen kann auch der Versuch stecken, Grenzen auszutesten. Macht ein Kind die Erfahrung, dass Erwachsene alles stehen und liegen lassen, sobald es losflitzt, wird es das vielleicht häufiger tun, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern.
Bei vielen Kindern wird es mit zunehmendem Alter besser. Die Weglauftendenz lässt bei Kindern mit Down-Syndrom im Grundschulalter häufig nach. Mit Glück hört sie sogar ganz auf.
Aber wie sicher kann man sich sein, dass das Kind wirklich nicht mehr wegläuft?

Weglaufen oder Hinlaufen?
Der Begriff Weglauftendenz wird von manchen Eltern kritisiert, die sagen, dass ihr Kind nicht weg-, sondern hinlaufe zu einem bestimmten Ziel. Wieder andere nehmen es als reines, durchaus orientierungsloses Weglaufen wahr.
Beide Wahrnehmungen können ihre Berechtigung haben – siehe die oben genannten Gründe für das Weglaufen.
Die Unterscheidung zwischen Weglaufen oder Hinlaufen kann jedoch dazu beitragen, überhaupt zu verhindern, dass dein Kind verschwindet. Denn je nach Ursache kannst du gezielte Maßnahmen ergreifen, damit dein Kind bei dir bleibt.
Dein Kind läuft gezielt – und durchaus mit einem gewissen Orientierungssinn – auf ein bestimmtes Ziel zu? Dann kannst du solch attraktive Orte mit ihm zusammen aufsuchen und so den Anreiz senken, dass dein Kind ganz allein dorthin läuft.
Ist deine Wahrnehmung eher, dass dein Kind tatsächlich wegläuft? Dann beobachte, ob es sich von Außenreizen wie vielen Menschen, Lärm, Verkehr etc. schnell überfordert fühlt und vielleicht die Flucht ergreift.
5 Ideen, um dein Kind zu schützen
Die Weglauftendenz eines Kindes setzt dich als Mutter enorm unter Stress. Jeder Ausflug, jeder gemeinsame Einkauf ist mit Ängsten und Sorgen verbunden. Was wenn das Kind wegläuft und du nicht schnell genug bist?
Überlegst du dir auch manchmal ganz genau, welche Unternehmungen mit deinem Kind du dir zutraust und wann der Stress einfach zu groß ist? Dann bist du nicht alleine.
Diese fünf Anregungen helfen dir hoffentlich dabei, dich auf gemeinsame Aktivitäten einzulassen – und gleichzeitig beruhigt zu sein, weil du bestmöglich für Sicherheit gesorgt hast.
# 1: Laufgeschirr oder Kinderschutzgurt
Umstritten, aber durchaus effektiv sind sogenannte Kinderschutzgurte oder Laufgeschirre. In Deutschland sind sie nicht wirklich üblich, in anderen Ländern, wie zum Beispiel England, schon.
Dort habe ich häufig gesehen, dass Eltern ihre Kleinkinder an der „Leine“ führen. Was ich, bevor ich ein Kind mit Down-Syndrom und Weglauftendenz hatte, zugegebenermaßen ziemlich bizarr fand, halte ich heute für durchaus effektiv.
Ein Laufgeschirr ermöglicht es, dein Kind frei laufen zu lassen und nicht ewig auf den Kinderwagen angewiesen zu sein. Weglaufen ist trotzdem nicht möglich, weil du dein Kind mit dem Geschirr sichern kannst.
Der Kritikpunkt: Das Kind wird in seiner Freiheit eingeschränkt und – je nach Betrachtung – auch in seiner Würde. Das kann man so oder so sehen. Im Kinderwagen ist es nicht wirklich freier, und am wichtigsten, so meine Meinung, ist die Sicherheit. Und es mag Kinder geben, die ein solches Laufgeschirr als Teil eines Spiels begreifen. Andere allerdings tolerieren es vielleicht überhaupt nicht.
Aber ja, es ist gewöhnungsbedürftig und bei uns unüblich. Und wenn es dich ohnehin schon belastet, dass du mit deinem Kind häufig auffällst, fühlst du dich vielleicht nicht gerade wohl mit einem solchen Geschirr, das zusätzlich Blicke auf sich zieht. Absolut nachvollziehbar und völlig in Ordnung.

#2: GPS-Tracker oder AirTag
Dank moderner Technologien ist es heute möglich, zum Beispiel über GPS den Aufenthaltsort eines Menschen nachzuvollziehen. Erlaubt ist das allerdings nur, wenn die Person darüber informiert und einverstanden ist – im Falle eines Kindes mit Behinderung entscheiden die Eltern, und hier gilt: Safety first.
Die Ortung über GPS funktioniert am unkompliziertesten, wenn dein Kind ein Smartphone oder eine Smartwatch hat. Vielleicht ist es dafür aber noch zu klein oder aber dein Kind toleriert keine Armbanduhr am Handgelenk. Die beste Smartwatch nützt nichts, wenn das Kind sie vom Arm nimmt, bevor es wegläuft.
Alternativ gibt es GPS-Tracker, die du deinem Kind in den Rucksack oder in die Jackentasche stecken kannst. Sie zeigen nicht nur den genauen Standort des Kindes an, sondern können je nach Modell sogar Alarm schlagen, wenn dein Kind sich aus einem vorher definierten Bereich entfernt. Das Problem hier: Sie sind relativ groß (ca. 8 x 6 x 2 cm), lassen sich also nicht wirklich unauffällig so in der Kleidung unterbringen, dass dein Kind es nicht bemerkt.
Im Rucksack ist das deutlich einfacher – hier musst du allerdings hoffen, dass dein Kind den Rucksack auf dem Rücken trägt, wenn es wegläuft.
Kleiner und gut an der Kleidung anzubringen sind AirTags (von Apple oder auch Google). Diese kleinen Chips, die in etwa die Größe eines Zwei-Euro-Stücks haben, lassen sich zum Beispiel in eigens dafür hergestellten Schuhsohlen einlegen. Das Kind weiß und merkt nichts davon und wird getrackt. Diese kleinen Geräte haben eine Batterielaufzeit von ca. einem Jahr – dein Smartphone informiert dich, wenn sie erschöpft ist.
Klingt super, aber leider gibt es auch hier ein Aber: AirTags funktionieren nicht über GPS, sondern mit Bluetooth. Dein Kind kann nur lokalisiert werden, wenn sich in seiner unmittelbaren Nähe (10-20 Meter) ein Apple- bzw. Android-Gerät mit aktivierter Bluetooth-Funktion befindet. In Städten und Wohngebieten dürfte das funktionieren – bist du mit deinem Kind jedoch etwas abgeschiedener in der Natur unterwegs, könnte es zum Problem werden.
Tracker verhindern natürlich nicht, dass ein Kind überhaupt wegläuft. Sollte es aber doch passieren, erleichtern sie die Suche und können dazu beitragen, dass dein Kind schnell und wohlbehalten gefunden wird.
Je nachdem ob dein Kind eine Smartwatch am Arm oder ein GPS-Gerät in der Hosentasche toleriert, ist das vermutlich die verlässlichste Variante (eine SIM-Karte ist in beiden Fällen erforderlich). Andernfalls sind AirTags eine gute Alternative – sie kommen ohne SIM-Karte aus.
Wir haben uns für jeweils eins von Apple und Google entschieden, weil GPS-Geräte bei uns nicht in Frage kommen und wir in einer Großstadt wohnen, wo die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich passende Smartphones in der Nähe befinden.
#3: Namensschilder in der Kleidung
Gerade bei nonverbalen Kindern, die ihren Namen oder gar ihre Adresse nicht kennen, sind Etiketten oder kleine Schilder mit Name und Kontaktmöglichkeiten ein Muss. Polizei und professionelle Einsatzkräfte suchen solche als erstes hinten im Kragen von Jacke oder Oberteil.
Natürlich kannst du auch deine Telefonnummer auf den Unterarm deines Kindes schreiben oder kleine Zettel in seinen Hosentaschen deponieren. Dann aber kann es passieren, dass dein Kind die Zettel findet und herausnimmt. Vom Schild in seinem Kragen weiß es nichts – und du kannst davon ausgehen, dass Polizei oder andere Menschen es sehen.
Ein Namensschild verhindert natürlich nicht, dass dein Kind wegläuft, kann aber dazu beitragen, dass es im Fall des Falls schnell wieder zu dir zurückgebracht werden kann. Zugegebenermaßen ist diese Lösung mit etwas Aufwand verbunden, aber es beruhigt zu wissen, dass Personen, die dein Kind finden, die Möglichkeit haben, dich zu kontaktieren (und dein Kind mit Namen anzusprechen).
Wahlweise kannst du deinem Kind natürlich einen beschrifteten Anhänger um den Hals hängen, zum Beispiel ein laminiertes Papier mit Name, Telefonnummer und hilfreichen Infos wie Spitzname oder ähnlichem. Das wird schneller entdeckt als ein Etikett im Kragen – aber auch hier gilt: Dein Kind muss es tolerieren, etwas um den Hals zu tragen, und du musst sicher sein, dass es den Anhänger nicht abnimmt.
#4: Einzelbetreuung oder Individualbegleitung
Mein Sohn läuft besonders auf Ausflügen mit der Schulklasse oder Ferienbetreuung weg. Mehrfach ist es da schon passiert, dass er auf einmal verschwunden war – zum Glück tauchte er immer wieder auf.
Um die Weglauftendenz in den Griff zu bekommen, wenn dein Kind fremdbetreut wird, ist natürlich der enge Austausch vorab mit den zuständigen Pädagog*innen wichtig. Sie müssen unbedingt wissen, wenn dein Kind zum Weglaufen neigt.
Im Idealfall kann deinem Kind dann eine 1:1-Betreuung an die Seite gestellt werden. Dann ist es engmaschig betreut und die Gefahr des Weglaufens schon deutlich reduziert.
Sollte das aus personellen Gründen nicht in Frage kommen, könnte in diesem Fall eine Individualbegleitung helfen. Auch das kannst du mit der Schule oder dem Träger besprechen und gegebenenfalls an entsprechender Stelle beantragen.

#5: Professionelle Unterstützung suchen
Was kannst du noch tun, um das Weglaufen an sich zu verhindern? Ich habe vor einigen Jahren – vermittelt durch unser SPZ – heilpädagogische Unterstützung in Anspruch genommen. Eine Heilpädagogin kam im Zeitraum von mehreren Monaten regelmäßig zu uns, und wir haben gezielt mit ihr geübt, draußen unterwegs zu sein.
Das Ergebnis: Seitdem klappen zumindest die täglichen Wege zum Einkaufen, zur Tram, zum Spielplatz etc. weitestgehend unproblematisch. An unbekannten Orten und besonders wenn mein Kind sich von zu vielen Außenreizen überfordert fühlt, bleibt das Problem aber bestehen.
Und ich möchte auch nicht verschweigen, dass es durchaus aufwendig war: die Termine mit der Pädagogin, und natürlich haben wir auch, als die Unterstützung geendet hatte, weiter geübt. Dennoch bin ich froh, dass wir es gemacht und uns professionelle Hilfe an die Seite geholt haben.
Weglauftendenz - Verwächst sich das?
Sollte dein Kind im Kindergartenalter eine ausgeprägte Weglauftendenz haben, darfst du hoffen, dass sich dieses Verhalten im Laufe der Zeit legt oder zumindest deutlich bessert.
Leider aber gibt es Menschen mit Down-Syndrom, Autismusspektrumsstörung etc., die auch als Erwachsene noch weglaufen. Besonders wenn sie sich an fremden und belebten Orten unwohl fühlen. Hier lohnt es sich also wieder zu überlegen, was die Ursache für das Weglaufen ist.
Die schlechte Nachricht ist: Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Gerade wenn es bei deinem Kind schon vorgekommen ist, dass es wegläuft. Indem du einige der oben genannten Maßnahmen miteinander kombinierst, kannst du aber sehr viel dafür tun, dass dein Kind sicher ist – und du beruhigter sein kannst.
Manchmal braucht es einen Schutzengel
Bisher war mein Sohn nie wirklich weit weggelaufen. Meistens war es ihm nur darum gegangen, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – indem er weglief und gleichzeitig sicherstellte, dass ich es auch ja mitbekam.
Aber diesmal war es anders. Diesmal war er wirklich weg.
Als mir klar wurde, dass ich ihn nicht finden würde, setzte Panik ein.
Was wenn er in die S-Bahn steigt?
Gibt es in der Nähe einen Fluss oder ein anderes Gewässer?
Er kann doch noch nicht alleine über die Straße gehen!
Am Ende hatten wir Glück.
Die Polizei kam schnell.
Und fand ihn wieder – besorgniserregend weit weg.
An diesem Tag war es gut ausgegangen.
Mein Kind hatte mehr als nur einen Schutzengel an seiner Seite gehabt.
Dennoch beschloss ich: Darauf würde ich mich in Zukunft nicht noch einmal verlassen wollen.
Seit diesem Erlebnis geht mein Kind nur in Ferienbetreuungen, in denen das Personal und er einander kennen – und wo er nahezu 1:1 betreut wird. Wir haben Schilder mit Name und Telefonnummer in allen Oberteilen und seinem Rucksack und zwei AirTags in Schuhen und Rucksack. Außerdem üben wir weiterhin regelmäßig, damit es auch an unbekannten Orten klappt.
Fazit
- Bei Kindern mit Down-Syndrom, Autismusspektrumsstörung etc. kann eine Weglauftendenz zur Gefahrenquelle werden. Um das Risiko zu minimieren, lohnt es sich herauszufinden, welches Bedürfnis hinter dem Weglaufen steckt (z.B. Überreizung, Wunsch nach Aufmerksamkeit, Neugier).
- Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Sicherheit deines Kindes zu gewährleisten – von persönlicher Betreuung, über Namensschilder in der Kleidung oder Kinderschutzgurte bis hin zu GPS-Trackern. Eine Kombination mehrerer Maßnahmen sorgt für mehr Sicherheit.
- Die Sorge um dein Kind und immer darauf gefasst sein zu müssen, dass es urplötzlich losläuft, kann dazu führen, dass du Ausflüge nach Möglichkeit vermeidest. Bedenke aber, dass die Weglauftendenz sich bessern kann, wenn du häufige Wege mit deinem Kind übst und es daran gewöhnst, bei dir zu bleiben, auch wenn es einen Ort nicht kennt.
Nicht allein als Mutter eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen
Hast du auch schon den Schockmoment erlebt, dass dein Kind plötzlich verschwunden ist? Dann hilft es dir vielleicht zu wissen, dass du mit dieser Erfahrung nicht allein bist. Wenn du gerne mehr über Themen lesen magst, die Mütter von Kindern mit Besonderheit täglich beschäftigen – und dir vielleicht sogar persönlichen Austausch wünschst, dann abonniere meinen Blog.