Inklusion gelingt nur, wenn sich die Mehrheit der Gesellschaft dafür verantwortlich fühlt. Doch oft fehlen Wissen und Erfahrung, was den Umgang mit Menschen mit Behinderung angeht. In diesem Beitrag geht es darum, wie wir Berührungsängste abbauen, die Rechte aller im Blick haben und zu einer verantwortungsbewussten Gesellschaft werden.
Niemand ist frei von Berührungsängsten
Ja, ich kenne das auch: Wenn ein Mensch mit geistiger Behinderung in den Bus einsteigt und sich ganz in meine Nähe setzt. Früher fühlte ich mich in solchen Momenten leicht unbehaglich, ein bisschen beklommen.
Denn dieser Mensch war in meiner Wahrnehmung nicht so gut berechenbar, sein Verhalten nicht so vorhersehbar wie das von jemandem ohne Behinderung.
Bei mir war es eine Mischung aus Verunsicherung und Sorge vor einer potentiell unangenehmen Situation, die womöglich eintreten könnte.
Was sich ändert, wenn Behinderung Teil des Lebens geworden ist
Wenn ich heute mit meinem Neunjährigen mit geistiger Behinderung an öffentlichen Orten bin, sehe ich dasselbe Unbehagen in den Augen manch anderer.
Zwar sieht mein Sohn deutlich jünger aus, als er ist, jedoch ist er eben auch kein Kleinkind mehr, das so nah an der Mama dran ist, dass allein das schon beruhigend wirkt.
Ich verstehe die Reaktion der anderen. Weil es mir, als Behinderung mein Leben noch nicht betroffen hat, eben ähnlich ging.
Wie wir mit Berührungsängsten umgehen sollten
Ich habe Verständnis. Davor, dass nicht jeder angesprochen oder gar angefasst werden will. Nicht jeder ist interessiert an meinem Kind, und das ist vollkommen in Ordnung.
Ich achte das Recht auf Privatsphäre eines jeden Menschen – auch im öffentlichen Raum.
Und doch: Es ist ein feiner Grat zwischen individueller Freiheit und dem, was wir einander zumuten dürfen. Vielleicht sogar müssen.
Diesen feinen Grat zu erkennen und immer wieder auszutarieren ist unser aller Aufgabe.
Es ist nicht immer leicht abzuwägen, wann ich eingreifen sollte: wann die persönliche Freiheit meines Kindes schwerer wiegt, auf die es auch ein Recht hat. Und wann die eines anderen. Wo verlaufen die Grenzen?
Bei der Lautstärke, beim unverständlichen Ansprechen, bei Berührungen?
Neulich kuschelt sich mein Sohn im öffentlichen Aufzug auf einmal an eine ältere Dame und umarmt sie.
Ich will gerade eingreifen, da sehe ich, wie sich ihr vorher bekümmerter Gesichtsausdruck plötzlich ändert. Ihre Augen leuchten und sie drückt mein Kind einmal ganz fest an sich.
Wenn wir im Bemühen, anderen nichts zuzumuten, immer gleich dazwischengehen, berauben wir uns vielleicht mitunter auch Momenten der Menschlichkeit.
Was wir uns zumuten müssen, um eine inklusive Gesellschaft zu werden
Zu allererst: genau hinsehen. Die Situation wahrnehmen und einordnen.
Weder verallgemeinern noch stigmatisieren: Manchmal rückt mein Kind jemandem tatsächlich zu sehr auf die Pelle. Dieser jemand ist dann nicht zwingend ein Inklusionsfeind. Sondern hat vielleicht einfach keinen guten Tag oder möchte gerne seine Ruhe haben. Sein gutes Recht, das wir anderen zu respektieren haben.
Jedoch: Müssen wir generelles Desinteresse an Inklusion gelten lassen? Liegt es nur in der persönlichen Freiheit zu entscheiden, mit welchen Themen man sich befassen mag – und mit welchen nicht?
Ja schon, einerseits.
Und dennoch, meine Meinung ist: Nicht-Wissen und fehlende Erfahrung ist immer der schlechtere Weg. Denn manche Themen gehen uns nun mal alle an, wenn wir Teil einer sozialen Gemeinschaft sein wollen.
Wer sich hier rauszieht, weil es ihn (derzeit) nicht betrifft, schließt sich aus. Und damit eben auch andere.
Es muss niemand zum Vorreiter der Inklusion werden, der andere Themen hat. Ich finde aber, dass wir von jeder und jedem, die oder der Teil unserer Gesellschaft ist, eins erwarten dürfen: Wissen, aufgeklärt sein. Gerade so, dass eine differenzierte Meinung möglich ist – wie auch immer sie aussehen mag.
Von diesem Hinsehen, Hinterfragen und Wissen lebt unsere Demokratie.
Und das geht uns alle etwas an. Ganz egal, ob wir gerade von Alter, Krankheit oder Behinderung betroffen sind oder nicht.
Deshalb dürfen wir einander ruhig mehr zumuten.
Hast du auch Erfahrungen mit Berührungsängsten gegenüber Menschen mit Behinderung?
Hinterlasse mir gerne einen Kommentar mit deinen Erfahrungen und Gedanken dazu! Wenn du mehr über Inklusion und den Alltag mit einem Kind mit Behinderung lesen möchtest, abonniere gerne meinen Newsletter.