Bildschirmzeit bei besonderen Kindern

Eine Kindheit ohne Bildschirm ist kaum mehr möglich – und auch nicht zeitgemäß. Doch wie viel Bildschirmzeit ist vertretbar? Und welche Folgen hat übermäßiger Medienkonsum gerade für besondere Kinder? In diesem Artikel erzähle ich von offiziellen Empfehlungen, von unseren Erfahrungen und wie wir ein gutes Maß gefunden haben.

Bevor ich Kinder hatte, hatte ich sehr klare Vorstellungen, wie viel Medienkonsum ich bei Kindern für vertretbar halte. In den ersten Jahren gar nicht, ab dem Vorschulalter ausgewählte Sendungen. So ungefähr stellte ich mir das vor. Und so kenne ich es auch aus meiner Kindheit.

 

In den ersten Lebensjahren meiner Zwillinge war das auch gar kein Problem – Fernseher und Tablet spielten bei uns keine Rolle. Meine Kinder kannten es nicht und vermissten auch nichts. Ich fühlte mich siegessicher und konnte nicht verstehen, warum Bildschirmzeit so ein Problem sein sollte.

 

Dann kam die Vorschulzeit und mein Kind ohne Behinderung fragte immer öfter nach der Paw Patrol. Die anderen Kinder im Kindergarten hatten davon erzählt und jetzt wollte auch mein Kind mitreden können. Das war der Moment, in dem auch wir den Bildschirm einschalteten. Mit klaren Regeln, die wir ohne Schwierigkeit einhielten.

Wie viel Bildschirmzeit ist vertretbar bei besonderen Kindern?

Wenn der Bildschirm zum Babysitter wird

Doch dann war plötzlich alles anders: Die Pandemie begann und meine Kinder waren auf einmal zu Hause. Wochenlang. Ich zwar auch, aber ich musste arbeiten. Es gelang gerade noch, etwas Zeit für Bewegung an der frischen Luft einzuplanen und für gemeinsame Spiele. Nicht genug, aber mehr war einfach nicht drin.

 

Die Zeit der Video-Calls begann und hält bei mir bis heute an. Zwar gehört es im beruflichen Kontext mittlerweile zur Normalität, dass Kinder am Bildschirm auftauchen, aber das bedeutet nicht, dass das für uns Mütter stressfrei wäre. Kann ich meinem Kind ohne Behinderung noch vermitteln, wann ich auf keinen Fall gestört werden will, ist das bei meinem Sohn mit Down Syndrom aussichtslos. Er fühlt sich magisch angezogen von den Gesichtern auf dem Bildschirm und begrüßt Kolleg*innen und Geschäftspartner*innen gleichermaßen fröhlich mit „Hallo, Omi!“

 

Für mich ist es undenkbar, konzentriert bei der Sache zu sein. Ideen zu entwickeln. Ansatzweise kompetent zu wirken. Die ganze Außenwirkung ist dahin, wenn das Kind mit tomatensaucenverschmiertem Mund am Bildschirm auftaucht.

 

Nur eine Sache funktioniert immer: Das Kind mit der Paw Patrol auf einen Einsatz schicken.

Ist Bildschirmzeit wirklich so schädlich?

Mittlerweile gehen die Kinder längst wieder in die Schule. Zum Glück. Mein Sohn mit Down Syndrom kämpft aber gerade in den Wintermonaten häufig mit Erkältungsinfekten und ist in dieser Zeit zu Hause. Hinzu kommen die Ferien, in denen ich oft kein passendes Angebot für ihn finde.

 

Setze ich in diesen Phasen den Bildschirm ein, ist das alles kein Problem. Dann kann ich arbeiten. Ungestört. Wenn ich will, stundenlang am Stück.

Ist doch nicht so schlimm, wenn es gute Sendungen sind, die die Kinder schauen“, beruhigte mich eine Freundin. Eine andere stellte die Frage, ob Kindern mit kognitiver Beeinträchtigung Medienkonsum vielleicht noch nicht einmal schade. „Er ist doch glücklich dabei!“ Andere Mütter (von Kindern mit und ohne Extra) erzählen mir, dass sie die Bildschirmzeit zeitweise nicht mehr reglementieren – weil der Alltag sonst nicht funktioniert.

 

Was ist richtig?

Die Folgen von zu viel Bildschirmzeit

Ab wann ist Medienkonsum schädlich für Kinder? Geht es wirklich nicht ohne? Und macht es einen Unterschied, wenn man „gute“ Programme auswählt? Ist zu viel Bildschirmzeit dann vielleicht doch nicht so schlimm?

 

Mein Sohn hat eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Zahlen. Mathematikunterricht ignoriert er, genauso meine kläglichen Übungen zu Hause, ihm das Zählen bis fünf beizubringen. Er macht schlicht nicht mit.

 

Doch was war das? Als ich einmal das Zimmer meines Sohnes betrat, saß er vor dem Tablet und schaute eine Mickey-Maus-Folge an. Daisy hatte ihre Schafe verloren und alle halfen mit, sie wiederzufinden – und zu zählen. Am engagiertesten war mein Sohn: Hochkonzentriert saß er da und zählte bis acht. Wieder und wieder. Ich hatte ihn die Zahlwörter vorher noch nie aussprechen hören.

 

Vielleicht ist Bildschirmzeit also doch besser als ihr Ruf? Das redete ich mir nun ein, wenn das Tablet lief, während ich arbeitete. Er lernt schließlich etwas dabei.

Das sagen die Experten: Wie sich zu viel Medienkonsum auf Kinder auswirkt

  • Sinnliche Erfahrungen kommen zu kurz und somit die Fähigkeit, sensorische Reize einordnen und verarbeiten zu können – vor allem bei sehr kleinen Kindern

  • Fehlende Bewegung mit den Folgen der verzögerten motorischen Entwicklung und Körperwahrnehmung, in Kombination mit ungesundem Essverhalten auch Gefahr von Übergewicht

  • Einschlaf- und Durchschlafprobleme

  • Konzentrationsschwierigkeiten

  • Psychische Folgen wie Ängste

  • Sprachentwicklungsstörungen

  • Hyperaktivität

Inwiefern sich der Medienkonsum bei meinem Sohn negativ auf seine Entwicklung auswirkte, kann ich bei einem Kind, das ohnehin sprachlich und motorisch entwicklungsverzögert ist, schwer beurteilen.

 

Bei uns gibt es am Bildschirm kein Essen, eine Gewichtszunahme konnte ich nicht feststellen. Da zwischen Medienkonsum und Zu-Bett-gehen immer ein zeitlicher Abstand war, hatten wir auch keine Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen.

 

Was ich jedoch in Zeiten, in denen er zu viel vor dem Bildschirm sitzt, feststelle: Er verliert die Fähigkeit zu spielen. Beschäftigung alleine ist auf einmal undenkbar und das, obwohl er ein Kind ist, das darin immer gut war.

 

Wenn die Alternative Bildschirm im Raum steht, verliert er an allem anderen das Interesse. Meist liegt er dann – wenn das Tablet ausgeschaltet ist – auf dem Boden und ist unzufrieden. Sobald er mich sieht, macht er die „Fernsehen“-Gebärde oder fragt hoffnungsvoll: „Gucken?“

 

Selbst gemeinsame Spiele verlieren dann ihren Reiz. Und an Förder- oder kleine Lerneinheiten ist überhaupt nicht mehr zu denken.

Wie ich mein Kind auf Bildschirm-Entzug setzte

Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem es mir zu viel wurde. Ich erkannte mein Kind nicht wieder. Hatten wir zuvor täglich zusammen Bücher gelesen, brauchte ich ihm damit nicht mehr zu kommen, nicht einmal vor dem Einschlafen. Sein fröhliches Lachen beim Spiel mit seinen Puppen hatte ich lange nicht mehr gehört. Das unglückliche Jammern, wenn der Bildschirm ausgeschaltet war, wurde hingegen zum permanenten Hintergrundgeräusch.

 

Ich beschloss also, die Reißleine zu ziehen. Und schaltete ab. Eine Woche lang komplett. Es war eine harte Zeit und die Reaktion meines Kindes hatte Ähnlichkeiten damit, wie ich mir einen Entzug vorstelle.

 

Mein Sohn war unglücklich und verzweifelt. Von morgens bis abends saß er nun neben mir, weil ihm nichts einfiel, was er sonst machen konnte. Die Tage wurden zur Zerreißprobe.

 

Aber dann passierte es: Irgendwann erkannte er, dass von mir kein Programm zu erwarten war, wenn ich arbeitete. Und so stand er auf und ging in sein Zimmer. Und da war es wieder: sein Lachen, wenn er mit seinen Puppen spielt.

Wie viel Bildschirmzeit ist denn nun in Ordnung?

Als ich merkte, dass sich die Lage langsam wieder entspannte, schaltete ich wieder ein – allerdings immer nur für sehr kurze Zeit.

 

Das habe ich seitdem beibehalten, und ich habe das Gefühl, dass die Bildschirmzeit so tatsächlich eine willkommene Abwechslung für ihn ist, sich aber nicht auf sein Verhalten auswirkt.

 

Die „Dosis“, die bei uns funktioniert: maximal dreißig Minuten und das nur an einigen Tagen in der Woche.

Empfohlene Bildschirmzeit laut BzgA

Alter 0-3: keine Bildschirmzeit

Alter 3-6: maximal 30 Minuten täglich

Alter 6-10: 45-60 Minuten täglich

Gehe ich vom tatsächlichen Alter meines Sohnes aus, liegen wir unter den Empfehlungen. Was sein Entwicklungsalter angeht, kommt es ziemlich genau hin.

Bildschirmzeit begrenzen: Wie es bei uns funktioniert

Natürlich war es sehr viel einfacher, den Bildschirm als „Babysitter“ zu bemühen. Es erfordert wenig Aufwand und garantiert stundenlanges Ungestörtsein.

Jetzt muss ich regelmäßig einen Spagat hinlegen und von Situation zu Situation überlegen, was klappt:

  • Wenn ich keine Videotermine habe, ist es in Ordnung, wenn mein Sohn neben mir sitzt und knetet oder malt.
  • Es gibt Zeiten, in denen er zuverlässig in seinem Zimmer spielt, in diese Zeiten lege ich meine Calls.
  • Und wenn ich weiß, dass es nur kurze Termine sind, darf er währenddessen auch fernsehen. Aber eben nicht länger als 30 Minuten.

Es kommt immer noch vor, dass er unzufrieden ist, wenn der Bildschirm ausgeschaltet bleibt. Das muss ich aushalten – und er auch. Diese Phasen vergehen jetzt auch deutlich schneller.

Ich achte jetzt noch bewusster darauf, Grenzen zu setzen:

  • dem Wunsch meines Sohnes nach noch mehr Bildschirmzeit
  • dem Wunsch der Schule, dass die Kinder nur dann kommen, wenn sie keinerlei Erkältungssymptome haben
  • der Erwartungshaltung, an jedem Call teilzunehmen, ohne Rücksicht darauf, was das für meine (Teilzeit-)Arbeit bedeutet.

Das ist das Spannungsverhältnis, das von Tag zu Tag neu austariert werden muss. Und ja, das kostet Kraft.

 

Neulich allerdings hatte ich ein ermutigendes Erlebnis: Wir haben jetzt ein Belohnungssystem zu Hause, um meinem Sohn all die Tätigkeiten schmackhaft zu machen, auf die er normalerweise keine Lust hat (anziehen, Zähne putzen, aufräumen …). Wenn diese Dinge klappen, darf er etwas auswählen, das ihm besonders Freude macht: Luftballon spielen, Kasperletheater, eine Brezn zum Abendessen – oder eben Bildschirmzeit.

 

Als ich ihm das letzte Mal die Bildkarten mit den Belohnungen zeigte, beachtete er das Bild vom Fernseher nicht weiter und griff beherzt zum Luftballon.

Es scheint also doch möglich: ein Leben jenseits des Bildschirms.

Paw Patrol, Peppa Wutz & Co. als Babysitter – wie läuft es bei dir?

Welche Erfahrungen habt ihr mit Medienkonsum bei euren besonderen Kindern gemacht? Was waren positive oder negative Folgen? Ich freue mich, wenn du mir einen Kommentar dazu hier lässt.

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